Montag, 30. Januar 2017

Der Mann aus Hochbergen

Klingt alles so schön exotisch hier.
Ist es aber nicht.
Also, für uns schon, aber für die Leute hier natürlich nicht.

Das Problem darin sich vorzustellen wie Japan für Japaner aussehen muss liegt darin, dass alle Worte die sie verwenden für uns fremd klingen - selbst wenn sie ganz mundane Dinge beschreiben.
Geisha zum Beispiel. Klingt doch super, oder? Ist aber auch nur eine Künstlerin. Das ist genau dass, was das Wort "Geisha" bedeutet: Gei=Kunst, Sha=Person.
Irgendwie gehen darüber die tatsächlich interessanten kulturellen Unterschiede oft verloren, wie zum Beispiel dass man hier Alleinunterhalter(innen) mieten kann, und dass auch keiner für besonders Merkwürdig hält.

Hier also mal zum Test: eine Geschichte die sich ungefähr fast so zugetragen hat, in den Worten die Sie gewohnt sind.



Er musste sich reichlich früh auf den Weg machen. Nicht weil er frühzeitig ankommen musste, sondern weil er in Hochbergen [1] wohnt. Von Hochbergen aus braucht man immer lange um irgendwo hin zu kommen, egal wo. In Langfeld [2] machte die UBahn erstmal eine kurze Pause: der Zug mußte von einer Bahngesellschaft an die andere Übergeben werden. Das Personal der neuen Firma stellt sich über Lautsprecher vor: "Mein Name ist Mittenfluss, ich bin der Zugfuehrer. Der Schaffner ist Unterfeld [3]. Danke, dass Sie auch heute wieder mit der UBahn fahren." Der Zug fuhr weiter und kurze Zeit spaeter betrat ein Mann den Waggon, der wohl Herr Unterfeld sein musste - erkennbar an der adretten Uniform, den weißen Handschuhen und der Verneigung beim Betreten des Waggons. Derweil fuhr der Zug weiter unter den Straßen der Stadt Grosshang [4] hinweg.

Schließlich erreichte er den Bahnhof Neu-Grosshang und stieg in den Schnellzug der Neuen Stammstrecke [5].
Fuer die knapp 500 Kilometer nach Oststadt [6] brauchte er so nur zweieinhalb Stunden. Das stand mal wieder in keinem Verhältnis zu den 60 Minuten die er für die 23 Kilometer von Hochbergen bis in die Stadt gebraucht hat. Aber immerhin musste er diesmal nicht den Nacht-Bus nehmen.

[1] Takayama (高山) wortlich: "hoch" und "Berg"
[2] Nagata (長田) "langes Feld", Stadtteil im Osten von Osaka
[3] Nakagawa (中川) und Shimoda (下田) - die meisten Familiennamen hier sind Ortsbeschreibungen, nicht Berufsbezeichnungen wie in Deutschland.
[4] Osaka (大阪) woertlich "Grosser Huegel" oder "Grosser Hang"
[5] Shinkansen (新幹線), die neue Haupt-Linie
[6] Tokyo (東京), "östliche Hauptstadt"




In Oststadt angekommen traf er auf die Organisatorin der Veranstaltung - die ironischerweise Grosshang hiess. Er war zunächst einen Moment überrascht: aus dem Briefverkehr hatte er nicht erkennen können, dass sie eine Frau ist [6]. Dem Vornamen nach hätte sie auch ein Mann sein können, weil sie ihn in den Emails nur in Lautschrift geschrieben hatte. Das hätte ja alles mögliche heißen können. Vielleicht hatte sie auch einfach keine Schriftzeichen für ihren Vornamen. Kommt in letzter Zeit häufiger vor. Allerdings ist die dafür ein bißchen zu alt. Naja, egal.

Jedenfalls mußten erstmal mit allen Leuten Visitenkarten ausgetauscht werden. Dabei fiel ihm auf wie schnell er sich durch seinen 100er Pack durchgefressen hatte. Bei jeder Veranstaltung so viele Karten, die meisten davon landen doch er in der Schublade. Er hatte es sogar schon erlebt, dass ihm Leute die Karte aufdrängten die danach alle Versuche zur Kontaktaufnahme ignorierten. Aber Verhalten, dass mehr auf Gebräuchen und Höflichkeit beruht als auf Logik ist hier nicht fremd.

Das Symposium ging dann recht unspektakulär vorüber. Zum Mittagessen wurden Lunch-Box und grüner Tee bereit gestellt. Normalerweise nahm er sich immer Zeit die Gedichte auf der PET-Flasche Tee zu lesen aber heute hatte er dafür keinen Kopf. Er ging lieber im Kopf nochmal seine Präsentation durch. Nicht den Inhalt, den konnte er schon, sondern um das richtige Level an Höflichkeit zu treffen. Ob er es richtig gemacht hatte wusste er wie immer nicht - die Leute sagen einem nie wenn man einen Fehler macht. Manche macht man deshalb Jahrelang und gibt sie auch weiter.

Wie üblich musste nach der Veranstaltung erstmal getrunken werden. Also gingen alle gemeinsam in in eine Schänke [7] um die Ecke. Auf dem Weg kamen sie an einer kleinen Kapelle vorbei die dem heiligen St. Petrus geweiht war [8]. Es standen schon zwei oder drei Leute davor Schlange um um Beistand zu beten - was sich ja immer gut zwischen zwei Meetings quetschen lässt: Münze in den Klingelkasten, die Glocke läuten, klatschen, verneigen, fertig.
Im Lokal angekommen brachte der Kellner gleich Waschlappen [9], und wahrend sie sich die  Hände abrieben bestellten sie schonmal eine Runde Bier.
Dazu gab's allerhand Snacks: Eingelegtes, fritiertes Hähnchenfleisch, rohen Fisch und sogar etwas rohes Pferdefleisch. Mußte wohl doch ein besonderer Anlaß sein. Dazu wurde frei gesprochen und gespaßt - obwohl je die Hälfte von zwei getrennten Firmen waren (also bestimmt ein Faktor Firmenpolitik mitgespielt hat). Wenn Bier fließt muss man die Höflichkeit auch mal sein lassen.
Nach drei oder vier Runden Bier verabschiedete er sich dann um Nachts noch Rechtzeitig wieder in Hochbergen anzukommen. Nachts fahren ja keine Züge mehr.


[6] Namens-Suffixe wie "Herr/Frau" sind im Japanischen Geschlechtslos.
[7] Izakaya (居酒屋), wörtlich: "Alkohol-Laden (in dem man sich aufhalten kann)"
[8] Ebisu (恵比寿), Shinto-Gottheit und Schutzpatron der Fischer (und Händler); das erste Zeichen steht für "gesegnet" (benedeit), könnte also auch der heilige St. Benedikt sein
[9] Oshibori (お絞り), Erfrischungstücher, wörtlich: Ausgewrungene