Samstag, 31. Januar 2015

Speer-spitz

Unsere Uni nennt sich im Englischen ja einfach ein "Institut".
Im Japanischen Original ist man nicht ganz so zurückhaltend.
SenTan (先端) heißt es da, also in etwa "die Speerspitze" der Forschung und Wissenschaft.

Gut, kann man jetzt als kulturellen Unterschied abtun. Schließlich gibt es noch zwei weitere "Institute" ähnlicher Bauart in Japan, die sich auch "Speerspitze" nennen. Vielleicht sind wir ein Dreizack oder so.

Jetzt hatten wir neulich eine Ausschreibung für einen neuen Slogan. Gewonnen hat irgendwas mit "über seine Grenzen hinauswachsen". Die Japanische Version war natürlich wieder weniger zurückhaltend und sagt jetzt: "hier ist die vorderste Speer-Spitze!". Also kurz: sogar im Dreizack sind wir noch die längste Zacke!

Sollte man also meinen, wir wären ganz vorn mit dabei!



Der Hilfs-Prof zeigt auf Facebook ein neues Video herum: da hat ein Japaner, scheinbar im Alleingang, ein Augmented Reality System gebaut... um mit seiner Lieblings-Animefigur ein Date haben zu können. Das ist doppelt beeindruckend weil: (a) die technische Leistung und (b) setzt der Typ damit sogar in Japan neue Rekorde im Nerd-sein.
Jedenfalls sind alle ganz aus dem Häuschen. Wie hat er das gemacht?! Das ist ja besser als das ganze Zeug auf der letzten Konferenz?!

Das Problem: ich kenne das Video schon. Es ist über drei Jahre alt. Ich habe es damals gesehen als ich neu ins Labor kam. Da wollte ich mir ein Bild davon machen was so der Standard heutzutage ist. Was lässt sich technisch schon machen, ohne riesiges Budget. Ich bin also davon ausgegangen, dass alle sowas machen und unser Labor mit dem ganzen Geld bestimmt noch einen drauf legen kann!
Können wir aber nicht. Und so lassen wir uns ein bisschen von einem drei Jahre alten Video beeindrucken und forschen dann mal weiter, damit wir das auch irgendwann so gut hinbekommen.




Gut, ganz fair ist der Vergleich ja auch nicht. Als Forscher ist unser Fokus ja nicht, ein möglichst schönes Produkt zu haben sonder neue Erkenntnisse zu gewinnen!
Und das tun wir! Mit exakten Messungen und wissenschaftlich soliden Methoden!

Also zumindest reden wir drüber. Dazu haben wir ein wöchentliches Meeting, wo jeder seinen Fortschritt präsentieren muss, und dann gemeinsam die nächsten Schritte diskutiert werden. Also "gemeinsam" ist übertrieben: nachdem die Meetings eher lang sind, halten 90% der Teilnehmer den Rand und versuchen sich anderweitig zu Beschäftigen. Da gehöre ich normalerweise auch dazu, nachdem mir die Sinnlosigkeit mehrfach vorgeführt wurde.

Der Ablauf ist so:

(1): ein Doktorand berichtet, dass er demnächst eine Studie durchführen möchte. Sprich: er will Leute einladen, die an einem Experiment teilnehmen und dann die Ergebnisse auswerten.

(0): bevor ich überhaupt damit anfange jetzt auf Details einzugehen muss ich noch sagen, dass solche Studien meist sowieso fragwürdig sind, weil sie fast ausschließlich Informatik-Studenten rekrutieren. Warum gerade Informatik-Studenten? Naja, die sind billig und wir hatten da gerade nen Haufen 'rumliegen. Also wenn in solchen Studien gefunden wird, dass eine neue neue Methode besser Funktioniert, dann heißt dass: "sie funktioniert besser für abnormal computer-fixierte Männer zwischen  20 und 30 Jahren". Jetzt wissen sie, warum ihr Computer oft so umständlich zu bedienen ist.

(2): jedenfalls: der Doktorand wird auf mehrere Fehler in der Konzeption seiner Studie hingewiesen, die seine Ergebnisse (noch) nutzlos(er) machen würden.

(3): es werden einige Vorschlage diskutiert, wie man das ganze besser machen könnte. Für einen gewissen Mehraufwand, aber auch nicht gerade unmöglich.

(4): einige Monate später präsentiert der Doktorand was er so gemacht hat. Stellt sich heraus: er hat alle Fehler gemacht, auf die vorher hingewiesen wurde.

(5): wir kommen zum Schluss, dass seine Ergebnisse nicht verwendet werden können. Außerdem hat er sich ins Bein geschossen, weil das Ergebnis darauf hindeutet, dass seine neue Methode schlechter ist als das was Großmutter schon gemacht hat. Gottseidank können wir das den groben Fehlern in der Durchführung in die Schuhe schieben. Sonst stünde jetzt eine Existenzkrise auf dem Plan.

(6): der Doktorand versucht zu erklären, warum er keinen der Verbesserungsvorschläge vom letzten Meeting angenommen hat: meist zeitliche oder logistische Probleme. Gefolgt von ...ähh... ja... weiß auch nicht... sorry.

(7): es wird versucht aus den Daten doch noch eine neue Erkenntnis an den Haaren herbeizuziehen, die dann auch noch die neue Methode besser aussehen lässt. Das ganze ist sehr dünn.

(8): es wird ein Paper geschrieben. Das Paper wird angenommen. Alle wundern sich, müssen aber klein beigeben, weil: WENN ES IN EINEM JOURNAL STEHT IST ES WAHR! Zitat vom Professor: "ich bin mit ihrer Arbeit überhaupt nicht einverstanden! Aber ihr Paper wurde angenommen, also kann ich nichts sagen."

(9): Der Doktorand graduiert. Keinen interessiert je wieder was da Geschrieben wurde. Zukünftige Forschung wird sich jedenfalls nicht von davon beeinflusst.


Ich mache mich dann mal wieder an die Arbeit. Bald steht auch bei mir eine Studie auf dem Plan...
Auf zur Spitze der Speerspitze!

Sonntag, 4. Januar 2015

Japanischer Marsch (Teil 3)

 Als ich wieder aufwachte, war ich erstmal verwirrt: wie spät ist es? Denn es war immernoch stockfinster im Zimmer. Wie sich schnell herausstellte waren aber einfach Panele vor die Fenster gehängt worden. (Ich sollte dazu anmerken, dass das meine erste Nacht in einem LoveHotel war, und mir dieser eigentlich sehr gängige Umstand noch nicht bekannt war.)
Ich packte meine Klamotten wieder zusammen.

Im Zimmer gibt es noch einen kleinen Automaten. Hier kann man sich, neben den offensichtlichen ... Utensilien ... auch neue Höschen kaufen. Das Gerücht von den "Automaten für getragene Damenunterwäsche" war damals gerade ganz heiß, und mir fiel spontan ein Freund ein, der sich über solche Kuriositäten sicher freuen würde - auch wenn die Wäsche in diesem Fall frisch war.
Also ziehe ich mir eine Unterhose. Komisch: muss scheinbar gar nicht bezahlen.

Unten in der Lobby fängt mich dann eine Dame ab, verlangt Geld für das Höschen und wundert sich, wo meine Begleitung denn abgeblieben ist. Die ist schon vorher Heim gegangen, sage ich, zahle und gehe.
Die ersten Kilometer gehe ich sicherheitshalber etwas schneller, falls die gute Frau die Polizei rufen sollte...



Anders als am Vortag halte ich mich jetzt nicht mehr an den Fluss Yodogawa, sondern schlage mich Querfeldein durch. Es wird ländlicher, hier im nirgendwo zwischen Osaka und Kyoto. Reisfelder ziehen an mir vorbei, und immer wieder gerate ich in Sackgassen. Dann bin ich aber zu stur um zurück zu gehen und suche mir lieber Trampelpfade oder klettere die Böschung bis zur nächsten Straße hinauf.


Eine dieser Böschungen stellt mich dann vor ein neues Problem: einen Fluss. Nicht der Yodogawa. Ich bin etwas nach Süden abgekommen. Kein Problem: dank Karte ist eine Brücke bald gefunden. Am anderen Flussufer marschiere ich dann weiter nach Norden.


Gegen Abend brauche ich wieder eine Pause und ein Bad. Nach etwas herumfragen finde ich auch wieder ein Badehaus. Anschließend frage ich einen jungen Mann, um meine Position genau bestimmen zu können. Er fragt mich wo ich unterwegs war, und ist ziemlich überrascht, als ich ihm sage, dass ich von Osaka hierher gelaufen bin.
Ich stelle fest, dass ich planmäßig die Innenstadt Kyotos umgangen habe und mich jetzt im Osten befinde. Der Grund war, dass Google Maps für Kyoto gar keine Love Hotels kannte. (Jahre später werde ich herausfinden, dass das eine dreiste Lüge war). Das einzige Hotel weit und breit ist hier in der Gegend.
Ich schau es mir schnell an: statt einem normalen Eingang hat es nur eine Einfahrt. Man fährt also mit dem Auto in eine Garage und kann von dort aus direkt ins Zimmer. Praktisch.
Natürlich gibt es aber auch hier jemanden, der aufpasst und mir gleich erklärt, dass ... jaja, kenn ich schon.

Aber ich habe ja noch einen Plan B:
Ein paar Meter die Straße runter ist eine Bar. Da gehe ich hin. Hole mir ein Bier und setze mich an einen Tisch neben zwei Mädels. Fange ein Gespräch an.
Nach dem üblichen Small-Talk, noch zwei Bierchen und etwas flirten kommt natürlich das Thema, wo ich denn übernachte.
Mein Stichwort! Ich erkläre die Situation, und versuche klar zu machen, dass ich da "etwas Hilfe gebrauchen könnte", zwinker, zwinker.
Ich bin nicht sicher ob sie verstehen, aber sie sind nicht erschrocken. Egal was sie also glauben, es kann eigentlich nur von Vorteil sein.
Wir gehen - zu dritt, denn die andere kommt auch mit. Entweder habe ich also Pech oder sehr sehr viel Glück.
Sie kommen mit durch die Einfahrt in den Innenhof.
Sie kommen mir in bis zur Garage.
Ist das die Möglichkeit? Ein Sekundenbruchteil zögern.
Da ruft von oben der Aufseher herunter, wieviele wir den seien?
"Einer", ruft das eine Mädchen noch bevor ich reagieren kann.
Damit war die Sache gelaufen, Alles diskutieren, überreden und betteln bringt nichts.
Ich bin sauer. Lasse die Mädels mit dem Hotelburschen stehen und stapfe davon.

Wohin weiß ich nicht. Nach einer Dreivieltelstunde Herum-Irren habe ich das Gefühl ziemlich verloren zu sein. Die Häuser haben aufgehört und die verschlungene Straße führt in einen Wald.
Es ist bitter kalt. Oder vielleicht bin ich auch nur müde.
Ich schaue auf der Karte nach wo ich bin. Kyoto habe ich tatsächlich hinter mir gelassen. Hier trennen mich nur noch ein paar Kilometer Wald vom See Biwako.
Ich habe ziemlich genau die Hälfte der Strecke geschafft.

Aber alleine, übermüdet und frierend weiter durch den Wald?
Das ist es mir nicht mehr wert!
Ich gehe zurück, warte am nächsten Bahnhof auf den ersten Zug und fahre Heim...





Epilog:
Wenig überraschend war ich wenig glücklich mit dem Ausgang der Geschichte.
Am nächsten Tag bin ich, nachdem ich bis Nachmittags geschlafen habe, etwas ziellos über den Campus geirrt.
Am Teich machen sie eine Grillparty. Kenne niemanden.
Normalerweise würde ich mich da nicht einmischen, aber ich bin immernoch stinkig. Also gehe ich dreist einfach rüber und frage ob ich mitmachen darf.
Tatsächlich werde ich eingeladen, bekomme ein Bier und einen Pappteller voller Fleisch.
Ein hübsches Mädchen sitzt auf einem Granitklotz, der auch nur genau groß genug ist für eine Person. Ich gehe trotzdem rüber und frage ob sie nicht einen halben Arsch rüber rutschen kann.
Das macht sie.
Ich erzähle ihr, was ich die letzten Tage gemacht habe.
Eine Woche später ist sie meine Freundin.
Was wohl passiert wäre, wenn ich weiter gegangen wäre...

P.S.: Was ich zu dieser Zeit nicht wusste, war dass Grillpartys normalerweise exklusiv von einem Labor ausgerichtet werden. Keine Chance sich da rein zu drängeln. Diese Party war überhaupt die einzige "offene" Party, an der alle Leute von der Uni teilnehmen konnten (Austausch und so). Es sollte keine mehr geben bis ich selbst Jahre später zurück komme und damit anfange wieder welche zu organisieren.